So fährt die Schweiz künftig autonom

Mobilitätsarena 2023 in Bern

So fährt die Schweiz künftig autonom

21. September 2023 agvs-upsa.ch – Wie die Schweiz Byte für Byte dem autonomen Fahren näherkommt, welche Chancen sie damit hat und welche Hürden sie dazu überwinden muss, zeigten Experten an der Schweizer Mobilitätsarena 2023 in Bern auf. Besonders spannend: Welche Rolle spielen dabei die Garagen? Jürg A. Stettler

mobilitaetsarena_bern_-19092023_-_jas_-_143_benutzerdefiniert.jpgThierry Juilland, Geschäftsführer Noviv Mobility AG bei der Amag. Fotos. AGVS-Medien

Zur Eröffnung der Schweizer Mobilitätsarena 2023 in Bern verrät Peter Götschi, Zentralpräsident TCS Schweiz: «Es ist wichtig, dass wir das Thema autonomes Fahren angehen, denn die Industrie macht vorwärts. Aber auch Verwaltung und Politik setzten schon Zeichen, damit die Schweiz schritthalten, ja vielleicht sogar eine Vorreiterrolle einnehmen kann.» Der TCS-Chef ist sich sicher, dass etwa automatisiertes Valet-Parking wohl schneller eingeführt wird, als manche glauben. «Manchmal schauen wir fast etwas neidisch zur US-Westküste, wo automatisierte Taxis schon unterwegs sind.»

Technologisch haben die Fahrzeuge Level 3
Auch TCS-Generaldirektor Jürg Wittwer macht deutlich, dass die künstliche Intelligenz und ihre Fortschritte die Entwicklung des automatisierten Fahrens rasant vorantreiben. «Wann wir das Versprechen einlösen, dass wir in einem Auto die Zeitung lesen können – und zwar nicht bei 60, sondern 100 oder 120 km/h –, ist immer noch offen. Heute wird wieder von etwa 2035 bis 2040 gesprochen, also erneut in 20 Jahren, wie man das 2000 versprochen hatte.» Dies habe aber weniger technische, sondern viel mehr regulatorische Gründe. «Bei Level 2 ist klar, der Fahrer muss noch aufmerksam sein. Bei Level 3 trägt in bestimmten Punkten der Autohersteller die Verantwortung – und dies ist der Grund, wieso man diese Technik noch nicht implementiert.» Technologisch seien die Fahrzeuge reif für den nächsten Schritt; Tesla habe 300 Millionen Kilometer, Ford 50 Millionen Kilometer autonom abgespult. «Haftung und Vertrauen sind das Problem. Honda hat die Level-3-Zertifizierung 2020 erhalten, Mercedes für den EQS diesen Mai, und der neue BMW 7er wird darüber verfügen. Aber wann kommt der Massenmarkt?» Das sieht Wittwer frühestens 2025 oder 2026.
 
Wissenswert: Die Level des automatisierten Fahrens
Level 1: Assistiert – hier unterstützen einzelne Systeme, doch es fährt der Mensch und trägt auch die Verantwortung.
Level 2: Teilautomatisiert – seit 2013. Unter bestimmten Bedingungen übernimmt das Auto. Der Mensch überwacht und muss eingreifbereit sein.
Level 3: Bedingt automatisiert – seit 2023. Bestimmte Situationen (z.B. Autobahn bis 60 km/h) fährt das Auto selbst. Der Mensch muss erst nach Vorwarnung eingreifen.
Level 4: Hoch automatisiert – das Auto fährt ganze Bereiche (z.B. Autobahn) vollständig selbst.
Level 5: Voll automatisiert – im Wortsinn autonom ist das Fahrzeug, wenn es auf Level 5 fährt, es also jede denkbare Fahrsituation ganz ohne Zutun des Menschen meistern kann.
Grenzen zwischen MIV und ÖV verschmelzen
Die ersten Level-3-Fahrzeuge für den Massenmarkt kommen also vielleicht in zwei Jahren, und nach und nach wohl auch in die Werkstätten. Klar ist den Experten, dass trotz autonomen Fahrzeugen das Verkehrswachstum kaum vor 2040 abflachen wird. Sigrid Pirkelbauer, Bereichsleiterin Verkehrs- und Innovationsmanagement beim Bundesamt für Strassen (Astra): «Wir müssen beim Astra deshalb bis dahin bemüht sein, die passende Infrastruktur bereitzustellen. Vor allem der Langsamverkehr im Bereich bis fünf Kilometer nimmt zu.» Zudem würden die Grenzen zwischen klassischem motorisierten Individualverkehr (MIV) und klassischem öffentlichen Verkehr (ÖV) verschwinden.

mobilitaetsarena-bern-19092023-jas-040.jpgMaria J. Alonso Gonzalez, Expertin vom World Economic Forum.

«Es wird weitere neue Formen des MIV geben, welche die beschränkten Platzverhältnisse der Infrastruktur nutzen», so Pirkelbauer. «Durch Automatisierungen können wir die vorhandene Kapazität besser nutzen, jedoch nur, wenn sich die Fahrzeuge untereinander kooperativ verhalten, wenn Infos von Auto zu Auto oder von Auto zu Infrastruktur weitergegeben werden.» Die Astra-Expertin spricht sich dabei auch für eine intelligente Infrastruktur aus, da ein aktiver Impuls ins Fahrzeug mehr Sinn mache als ein Detektieren einer Verkehrsinfo, die fehlerhaft sein könne. Welches Szenario sich durchsetze, ein auf sich allein gestelltes Auto oder digitale Vernetzung, sei jedoch noch offen. «Wir vom Astra gehen eher von einer Vernetzung aus.» Daher ist man beispielsweise daran, ein digitales Abbild der Strassen zu schaffen. Und mit Rima (Road Infrastructure Management) will man ein zentrales Verkehrsmanagement mit einer dynamischen Signalisation etablieren, die Autos abrufen können.

Amag investiert in autonomes Fahren
Nicht nur der Bund, sondern logischerweise auch die Wirtschaft hat ein grosses Interesse am automatisierten Fahren. «Die Schweiz hat hier die Chance, eine führende Rolle zu spielen. Das vollautomatisierte Fahren eröffnet auch Wege für neue Geschäftsfelder», erläutert Thierry Juilland, Geschäftsführer Noviv Mobility AG bei der Amag. «Unsere Kunden werden immer mehr von Fahrern zu Nutzern, was einen grossen Einfluss auf unser Geschäft hat, vom Geschäftsmodell und neuen Vertriebskanälen bis hin zu Angeboten wie ‹Everything as a Service›.» Als wichtigsten Gamechanger der Mobilität sieht Juilland jedoch das autonome Fahren, dass gemäss Zahlen der Boston Consulting Group die Sicherheit um 87 Prozent verbessern, die Emissionen um 66 Prozent senken und die Verkehrseffizienz um 30 Prozent erhöhen könne.

mobilitaetsarena_bern_-19092023_-_jas_-_014_benutzerdefiniert.jpgPaneldiskussion mit Jonas Schmid (Mobilitätsarena) Thierry Juilland (Geschäftsführer Noviv Mobility AG der Amag), Sigrid Pirkelbauer (Bereichsleiterin Verkehrs- und Innovationsmanagement beim Astra) und TCS-Generaldirektor Jürg Wittwer (v.l.n.r.).

Daher habe die Amag sich auch am dänischen Unternehmen Holo A/S, einem Spezialisten von autonomen Mobilitäts- und Logistiklösungen, beteiligt. «Zudem sind wir exklusiver Partner von Loxo, einem Berner Start-up, das einen autonomen Cargo-Shuttle betreibt», erläutert Juilland. Schindler-Mitarbeitende könne bei diesem Pilotprojekt Einkäufe bei der Migros bestellen, und das autonome Fahrzeug liefert sie dann aus. «Wir haben schon viel dazugelernt», erklärt Juilland: «Eine Baustelle, die sich verschiebt, oder die Nähe zur Bahnstrecke, was immer für einen kurzen Signalunterbruch sorgt, wenn ein Zug vorbeifährt, stellen für das autonome Fahrzeug in der Praxis Herausforderungen dar. Das alles war wichtig, um es weiterzuentwickeln – vor allem zeigte es auch auf, was heute schon möglich ist.»

Service-Depots für autonome Fahrzeuge
Wichtig sei, dass man offen für Neuerungen und Kooperationen bleibe, denn «wir bleiben am Ende eine Retail-Organisation, das ist in unserer DNA. Die Transformation können wir nur schaffen, wenn wir die Herausforderungen gemeinsam angehen», erklärt Thierry Juilland. Die Transformation sorgt bei der Amag ausserdem für ganz neue Berufsfelder: So arbeiten nun acht Tele-Operatoren für das Loxo-Projekt, die – ähnlich wie in einem Fahrsimulator – auf Monitoren sehen, was passiert, und aus der Ferne intervenieren können. Juilland macht aber auch Garagistinnen und Garagisten Hoffnung: «Auch autonome Fahrzeuge müssen gewartet oder aufgeladen werden. Ein Service-Depot, wie es beispielsweise Waymo in San Francisco für die Robo-Taxis betreibt, kann ein Geschäftsfeld werden.»

mobilitaetsarena-bern-19092023-jas-114.jpgJörg Jermann, Leiter Neue Mobilität bei Rapp AG, glaubt, dass disruptive Angebotsformen beim autonomen Fahren vor allem kommen, wenn Level 5 erreicht ist.

Erst bei Level 5 verschmelzen MIV und ÖV
Ein weiterer Schritt hin zum autonomen Fahren – auch hierzulande – wird wohl im Oktober kommen, durch die entsprechende Verordnung. «Uns ist wichtig, dass man neue Mobilitätsangebote testen kann», erläutert Sigrid Pirkelbauer vom Astra. Die ganze Zulassung der autonomen Fahrzeuge und auch der Strecke, die sie nutzen, würde darin geregelt, und endlich hätte dann auch das Astra die Möglichkeit, an bestimmte Projekte Fördergelder zu vergeben. In der Paneldiskussion macht TCS-Generaldirektor Jürg Wittwer deutlich: «Was wir in der Spitzentechnologie anwenden, bringen wir in der Schweiz selten in die Breite. Wir waren einst führend bei Solarzellen oder auch bei Elektroautos, aber nun nicht mehr. Wir haben hier keinen guten Track Record, daher bin ich auch beim autonomen Fahren etwas skeptisch.» Sorgen, dass der TCS oder auch Garagisten dereinst aufgrund der autonomen Fahrzeuge keine Arbeit mehr haben, macht aber auch er sich nicht: «Im Bereich Sicherheit und Bequemlichkeit liefert uns Level 3 sicherlich etwas, die wirklich fundamentale Veränderung und die Verschmelzung von MIV und ÖV wird erst bei Level 5 kommen.» Lachend fügt er an: «Da die Grundtendenz zu mehr Mobilität geht, bedeutet dies auch mehr Arbeit für den TCS. Zudem haben auch autonome Autos normale Pneus: Und ein Lidar kann noch keinen Nagel erkennen...»

mobilitaetsarena_bern_-19092023_-_jas_-_050_benutzerdefiniert.jpgPsychologie-Professorin Dorothea Schaffner von der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Akzeptanz des autonomen Fahrens wichtig
Wie wichtig nicht nur die technischen Aspekte fürs autonome Fahren sind, zeigt danach Dorothea Schaffner, Professorin der Fachhochschule Nordwestschweiz, auf: «Autonome Fahren ist auch eine kulturelle und nicht nur eine technologische Frage. Daher ging es bei unserer aktuellen Studie darum, Barrieren und Motivatoren zur Akzeptanz von autonomem Ridepooling anzusprechen.» Spannend bei den vorläufigen Resultaten: Eine höhere Auslastung und alternative Antriebe werden als positive Aspekte genannten, die auch die Nachhaltigkeit erhöhen. Gleichzeitig fürchteten sich aber auch viele vor einer Ausdünnung des ÖV-Angebots durch die autonomen Ridepooling-Angebote.

mobilitaetsarena_bern_-19092023_-_jas_-_059_benutzerdefiniert.jpgPaneldiskussion mit Mathias Halef (Mobilitätsarena), Dorothea Schaffner (Fachhochschule Nordwestschweiz), Franziska Schär (bei Mobility verantwortlich für Projekt I & Any) und Christoph Zeier (Lead Mobility Initiatives bei der Amag) (v.l.n.r.)

Und Maria J. Alonso Gonzalez, Expertin vom World Economic Forum, macht klar: «Autonomes Fahren muss zehn Prozent sicherer sein, damit wir es akzeptieren, denn gegenüber Computern haben wir keine Gefühle und eine geringere Fehlertoleranz.» Die WEF-Expertin plädiert zudem dafür, dass autonomes Fahren ganzheitlich betrachtet werden müsse und der Fokus auf den Menschen, die es nutzen, und nicht der Technik liegen müsse, damit unsere Lebensqualität verbessert werde. «Wir müssen ideale Einsatzfelder definieren und eine Roadmap für autonomes Fahren entwickeln, um die Technologie voranzubringen», ergänzt Maria J. Alonso Gonzalez. «Nur wollen alle in diesem Feld die ersten sein; das hilft für eine gemeinsame, weltweite Regulierung wenig. Es wird sicherlich länger gehen als bei der weltweiten Regulierung der Luftfahrt. Nur schon, weil autonome Fahrzeuge beispielsweise nicht bis nach Australien fahren.»
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